Mit viel Liebe ist sie gehäkelt worden, diese kleine Giraffe. So gibt es sie wahrscheinlich nur einmal. Wie das Kind, das sie mir heute stolz und glücklich gezeigt hatte. Liebenswert finde ich diese Handarbeit. Auch, weil sich jemand darüber Gedanken und viel Mühe gemacht hat, bis sie fertig war. Um jemand anderem oder sich selbst damit eine Freude zu machen. Jenes kleine Wesen, dessen Hals gar nicht mal so lang ist, das mich mit großen Augen offen anschaut, ist nicht nur ein Spielzeug. Sondern auch ein Spielgefährte. Hört mir zu und widerspricht mir nicht. Sagt nichts. Sieht mich an. Ist kein Avatar, keine grafische Darstellung, die in der digitalen Welt als Stellvertreter fungiert. Sondern greifbar. Berührbar. Echt. Funktioniert ohne Strom. Ohne Batterie. Ohne Akkupack. Braucht nicht einmal einen Internetanschluss. Kann trotz all dieser „Nachteile“ echte Freude schenken.
Wohltuend empfinde ich diese kleine Giraffe. Weil analog, benötigt sie keine kostenpflichtigen Updates. Ohne jede Künstliche Intelligenz kommt sie aus. Wenngleich sie nach und nach zeitbedingt irgendwann nicht mehr so neu aussehen wird, sind jene Spuren, die sie trägt, Zeichen dafür, dass sie nicht in irgendeinem Regal oder in einer dunklen Schublade verstaubt und vergessen wurde. Sondern, dass sich jemand im besten Sinn des Wortes mit ihr befasst hat und mit ihr Glücksmomente verspürte.
„Alles hat seine Zeit“, heißt es im Alten Testament in der Bibel im 3. Kapitel des Buches Kohelet, das in der Lutherbibel „Prediger“ genannt wird. Mir scheint, dass in unserer Zeit, so wie ich sie momentan erlebe, sich immer mehr immer rascher verändert. Manches, das früher tragend war, gibt heute keinen Halt mehr. Vieles wird im übertragenen Sinn auf den Prüfstand gestellt. Hinterfragt. Als „von gestern“ abgestempelt. Scheint nicht mehr in unsere „schöne neue“ Welt zu passen. Was bleibt? Die Verantwortung für mich und das mir Anvertraute. Dem französischen Dramatiker Jean-Baptiste Poquelin, genannt Molière, wird dieser Satz zugeschrieben: „Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.“ Wer sich immer nur am selben Ort aufhält, wird nichts Neues sehen, erfahren und erleben können. Wer ausschließlich das macht, was sie oder er immer schon getan hat, braucht sich nicht darüber zu wundern, dass sich nichts ändert oder verändert. Genau das aber macht immer mehr Menschen unsicher. Und jetzt?
„Alles hat seine Zeit.“ Die „Giraffenzeit“, die Spielzeit damit, wird eines Tages Geschichte sein. Aber muss ich denn jede Entwicklung noch mehr beschleunigen? Aus der Sorge heraus, etwas zu verpassen? Etwas, von dem ich meine, dass es für mich wichtig und wesentlich sein könnte? Wenn Kinder nicht mehr Kinder sein dürfen, nicht mehr sich ausprobieren können und die Erwartungen an sie immer höher werden, bleibt manches auf der Strecke. Es ist banal: Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Ruhige sind nicht gleich Autisten oder „Asperger“. Lebendigere, ja, Wildere haben nicht immer ADHS. Ist es schon so weit, dass manche Erwachsene Kinder in ihrem Kindsein nicht mehr ertragen können? Das „optimal funktionierende“ Kind gibt es ebenso wenig wie den perfekten Vater, die fehlerlose Mutter oder den stets erfolgreichen Erwachsenen. „Alles hat seine Zeit. … es gibt eine Zeit zum Weinen und eine zum Lachen, eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden, eine Zeit zum Lieben und eine Zeit zum Hassen, eine Zeit für den Frieden und eine Zeit für den Krieg.“ (vgl. Koh./Pred. 3, 1-8.)
Ob es nicht an der Zeit ist, dass ich mir wieder Zeit nehme für den Augenblick? Für das Heute? Für das Jetzt? Nicht für das, was war. Auch nicht für das, was irgendwann irgendwie irgendwo einmal sein könnte. Was gewesen ist, ist vorüber. Was im nächsten Augenblick sich tut oder nicht geschieht, erfahre ich, wenn es soweit ist. Die kleine, gehäkelte Giraffe mag in den Augen mancher ein Spielzeug aus längst vergangenen Tagen sein. Doch sie ist ein wunderbares, selbstgehäkeltes Geschenk für ein Kind, das sich darüber freut.
Br. Clemens Wagner ofm, Schulseelsorger